Kultur

Kulturgut: Allee

„Durch die Alleen eilen Liebende, umschlungen, zitternd nicht vor Kälte, sondern vor Lust […]“ Mit diesen Zeilen macht die zeitgenössische (geboren 1981) Dichterin Marjana Gaponenko auf etwas sehr Kostbares aufmerksam: Alleen sind nicht nur Durchfahrtsstraßen, sondern sie tragen uns – mit unseren Erlebnissen, Gefühlen und Stimmungen. In vielfältigen Erscheinungen prägen Alleen die Landschaften, in denen Menschen aufwachsen. Ihr Anblick weckt Erinnerungen und erzeugt ein Gefühl von Heimat. Das macht Alleen zu einem Kulturgut, das schon viele Menschen inspiriert hat.

Die Allee als europäisches Kulturgut

Schon im Altertum wurden Alleen angelegt: Die „Via Appia“ war die erste befestigte Fernstraße Europas. Ab 313 v. Chr. von den Römern erbaut, führt sie über eine Strecke von 539 Kilometern von Rom nach Brindisi. Von Bürgersteigen, schattenspendenden Pinien und Grabmälern begleitet, gilt sie bis heute wegen ihrer Schönheit als die „Königin der Straßen“.

Alleenreichtum in Städten

In vielen europäischen Städten gibt es berühmte Prachtstraßen, die von Bäumen gesäumt weltweit „Werbung“ für diese Orte machen – so z.B. die Avenue des Champs-Élysées in Paris, die Prater-Hauptallee in Wien, die Avenida da Liberdade in Lissabon und Unter den Linden in Berlin. Die Straße „Unter den Linden“ war die erste Allee in Brandenburg. Meist wurden diese Alleen vor einigen hundert Jahren angelegt und verbanden oft Schlösser mit Parks oder der freien Landschaft. Ursprünglich waren sie oft auch mehrreihig und boten einen imposanten Anblick.

Alleen in Kultur und Literatur

Alleen werden oft mit einem Stück lebendiger Architektur verglichen. Durch ihre organisch gewachsene Form sind Alleen besonders reizvoll: Dicht gepflanzt wirken sie von außen wie eine grüne Wand. Von innen gesehen ist das Blätterdach hingegen gewölbt, was die sogenannte „Domwirkung“ hervorruft. Bei größeren Pflanzabständen wird die Geschlossenheit durch den Effekt eines rhythmischen Licht-Schatten-Spiels aufgebrochen. Natürlich wirken diese Effekte auch in die Literatur hinein. Theodor Fontane schrieb: „… durch das Ebenmaß der baumgesäumten Wege sehe ich das Land wie durch das Fenster und fühle mich darin geborgen.“ Einen Ausdruck eigener Stimmungen haben Dichter in der jahreszeitlichen Wirkung von Alleen gefunden – so Rainer Maria Rilke, dem die herbstliche Allee in seinem Gedicht „Herbsttag“ zum Symbol für Einsamkeit wurde: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“

Alleen in Malerei, Plastik und Musik

In der Malerei sind Alleen ebenfalls seit langem ein beliebtes Motiv: So bei Vincent van Gogh die „Pappelallee im Herbst“ (Nuenen 1884) oder in Edvard Munchs Gemälden „Allee im Schneegestöber“ (Oslo 1906) und „Der Mörder in der Allee“ (Oslo 1919).
Baumreihen, Straßen oder Wege gar zu verpacken ist eine Idee von Christo und Jeanne-Claude, die 1998 in einem Park bei Riehen in der Schweiz zu besichtigen war.

In der Musik werden Alleen zu innerstädtischen Locations – „avenues“ (aus dem lat. advenire, d. h. „ heranführen“ an Gebäude oder Straßen). Meist sind sie Orte stimmungsvoller Erlebnisse oder leidenschaftlicher Begegnungen. So erzählt Bob Dylan: “I heard her say over my shoulder, ‚We‘ll meet again someday on the avenue’, tangled up in blue.“ – während der vereinsamte Ray Charles in “Lonely Avenue“ klagt: “I live on a lonely avenue, my little girl wouldn‘t say, ‚I do‘ …“